Was ist ein Schatz?

Mittelalter, irgendwo in Deutschland. Zwei Mönche sitzen in einer Dorfschänke und unterhalten sich lebhaft über die neueste Errungenschaft ihres Klosters: ein wertvolles Buch. Es ist handgeschrieben, aufwändig bebildert und in dickes Leder eingebunden. Der hohe Wert dieses Buches besteht natürlich aus seinem Inhalt, der aber wiederum sich nur demjenigen offenbart, der in der Lage ist, die seltsamen Zeichen und Symbole zu lesen und zu verstehen. Es handelt sich also um einen ideellen Wert. Das hätten die Mönche mehr betonen sollen, als sie sich darüber unterhielten, ohne darauf zu achten, dass auch noch andere Personen mithörten. Als kurz darauf das Kloster überfallen und zerstört wird, finden die Angreifer zu ihrer Überraschung keinerlei materielle Wertgegenstände vor.

Ein anderer Ort, eine andere Zeit: Die Bauern eines Dorfes feiern eine reiche Ernte. Auch hier passiert dasselbe: die Nachricht gelangt an Ohren, für die sie nicht bestimmt war. Bei der kurz darauf stattfindenden Schlacht wird das Lagerhaus des Dorfes in Brand gesetzt; die Ernte, die dabei in Flammen aufgeht, hätte ausgereicht, um mehrere Nachbardörfer über Monate hinaus mit Lebensmitteln versorgen zu können. 

Es gibt aber auch Gegenstände, deren Wert lediglich immateriell ist; beispielweise, weil sie einen persönlichen Erinnerungswert besitzen oder weil es sich um unersetzbare Einzelstücke handelt. Kunstwerke wie die weltberühmte Mona Lisa  zählen dazu; einmal zerstört oder verlorengegangen, ist sie mit keinem Geld der Welt wiederzubringen; sie ist somit im eigentlichen Sinne wertlos

Ein anderes Beispiel: Atahualpa, der letzte Herrscher des Inkareiches, wurde von den spanischen Eroberern gefangengenommen. Für seine Freilassung bot er an, man werde den Raum, in dem er gefangen gehalten wurde, mehr als mannshoch mit Gold und Silber füllen. Die Spanier nahmen dieses Angebot an und es gelang den Inka im Verlauf mehrerer Monate, diese Forderung tatsächlich zu erfüllen. Am Ende aber nützte das aber doch nichts, die Spanier missachteten die Vereinbarung und töteten Atahualpa – aus Angst vor weiteren Angriffen und um sich seiner zu entledigen. Gold oder Silber hatten für die Inka wenig Wert; sie nutzen das ästhetisch schöne Material zur Herstellung ihrer Kunstobjekte [Quelle]. Unermesslich viel höher schätzten sie das Leben ihres Anführers ein. Daher wird es ihnen vergleichsweise leichtgefallen sein, die Gier der Spanier zu befriedigen. Und doch konnte auch dies sein Leben nicht retten.

Ausstellung "Inkagold" in Hamburg, 2007
Diese Beispiele zeigen, dass es für die Definition der Begriffe „Schatz“  oder auch „wertvoll“ durchaus unterschiedliche Ansätze geben kann. Der erste Gedanke, der einem dazu in den Sinn kommt, ist wohl meistens der Schatz im materiellen Sinne, also beispielsweise eine Kiste voller Gold und Edelsteine, wie sie in so manchem Piratenfilm früher oder später in Erscheinung tritt. Dieser materielle Wert setzt aber immer voraus, dass es jemanden geben muss, dem der Wert auch tatsächlich etwas bedeutet, das über das Empfinden von Schönheit oder Glanz hinausgeht. Es muss ein Gegenwert vorhanden sein. Das heißt: wenn ich jemandem ein Goldstück oder einen Edelstein übergebe, dann erwarte ich, dafür etwas anderes von ihm zu bekommen, dessen Wert meiner Ansicht entsprechend gleichwertig, wenn nicht sogar höher ist. Der Empfänger wiederum ist bereit, mir diesen Gegenwert zu geben, weil er voraussetzt, dass auch er jederzeit eine dritte Person findet, mit der er einen ähnlichen Tauschhandel durchführen kann. Reichtum basiert also auf dem Umstand, stets genügend Waren zu besitzen, um sie eintauschen zu können gegen Bedarfsartikel des täglichen Lebens. 

Es gibt aber auch noch den Begriff „Reichtum an Erfahrung“. Auch dies kann buchstäblich überlebenswichtig sein: Das reine und unverfälschte Wissen um die Zusammenhänge des Lebens. Dies beginnt mit Beobachtungen aus der Natur, die mich umgibt; welche Dinge ich essen kann und welche nicht, welche Tiere mir zur Nahrung oder zur Bekleidung nützlich sind und welche ich meiden muss, da sie mir gefährlich werden können. Wetterlage, Klima und Jahreszeit. Alles das enthält Informationen, die darüber entscheiden, ob ich den nächsten Winter überleben werde. 

Diese Informationen wurden in früheren Zeiten mündlich überliefert. Die „Erfindung“ bildlicher Darstellung und daraus resultierender Schrift sorgte dafür, dass die Überlieferungen auch über mehrere Generationen erhalten blieben. Dennoch konnten Krankheiten, Todesfälle oder Naturkatastrophen jederzeit dafür sorgen, dass die Kette weitergegebener Informationen unterbrochen wurde und der Wissensschatz damit verloren war. 

Zusammenfassend kann man sagen: ein Schatz ist immer das, was ich dafür halte. Was dem Einen völlig wertlos erscheint, ist für den Anderen mehr wert als alles andere auf der Welt. Was einer im Überfluss besitzt, ist bei einem anderen rar und kostbar.

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